Leseprobe Roman
Colafluss und weißer Würfel
In Gläser gefüllte Träume
Die Hecke hatte immer noch das Loch, durch das ich mich nach der letzten Stunde rücklings in unseren Vorgarten fallen ließ. Ich presste die Lider fest zu, damit mir die Zweige vom Liguster nichts anhaben konnten, spannte die Sehnen über den Füßen an und kippte über die Hacke nach hinten. So oft ich es auch tat, jedes Mal grenzte es an Zauberei. Ich schwebte einen Moment, dann fiel ich weich auf meine Schulbücher und hörte, wie die Luft aus meinem Ranzen entwich, der mich wie ein Käferpanzer schützte. Würde ich wohl durch diese dichte grüne Wand ins Märchenland stürzen? Hinter mir schloss sich die Hecke, und die Welt verschwand, in der es die Goetheschule gab. Dann lag ich auf dem Rasen vor unserem Blumenrondell, das mein mit Steinen umgürteter magischer Kreis war, in dem das Wünschen noch half.
Nun, dreißig Jahre später war meine Schule mangels Kindern längst geschlossen. Hübsch hergerichtet, denkmalgerecht saniert, standen die Häuser meiner Heimat leer. Aus den Fenstern glotzten Schilder mit der Aufschrift: „Zu verkaufen“. Auch unser gelb-geklinkerter Hauseingang mit seinen grün-rosa gestrichenen Fensterläden wurde angeboten. Seit Sonnenaufgang überzog sich alles mit einer Schicht Saharasand, der mit den Winden aus Afrika, übers Mittelmeer, die Alpen und den Rennsteig unablässig heraufwehte, um sich in den Senken der mitteldeutschen Tiefebenen festzusetzen. Vielleicht graben Archäologen in tausend Jahren hier etwas aus, das sie als eine Reihenhaussiedlung mit variantenreichen Fachwerkgiebeln im Heimatstil erkennen würden.
Beim Gedanken ans Ausgraben stieg in mir die Neugier auf, ob sich denn meine Beweise für die wirklichen Todesumstände meiner Mutter, diese Gläser mit der grauen Flüssigkeit, noch hinter unserem Haus befanden. Der Zaun stand noch, wer soll die da gefunden haben? Die gibt es noch, war ich mir sicher. Mindestens ein Dutzend Gurkengläser mit abgefüllter Brühe könnte ich bergen. Allerdings müsste ich erst einmal einen Spaten organisieren. Wenn keiner auf dem Friedhof liegt, fahre ich am Nachmittag noch in den Baumarkt.
Aber zunächst musste ich erst einmal die Beerdigung meiner Mutter hinter mich bringen. Der Umweg vorbei an meinem alten Zuhause und die schlechte Sicht machten, dass ich spät dran war. Vor dem Friedhof stand der Rest der Familie, auch die vom Wuchs kleinen Tanten, meine Cousine und ihr Mann. Alle rauchten, bis auf meine Cousine Maja. Sie war der ganze Stolz der Familie und Chefärztin einer Kurklinik. Sie sicherte den Wohlstand, der sich in ihrem neuen Haus zeigte, in das sie alle umgezogen waren. Etwas abseits versammelten sich zahlreiche Menschen, bekleidet mit leuchtend bunten altmodischen Sportjacken oder in Arbeitskluft. Einige hatten zumindest eine schwarze Trauerbinde um den Arm gebunden.
„Sind die alle wegen meiner Mutter hier?“ – „Ja, ihre ehemaligen Kollegen“, flüsterte meine Tante Babett.
„So viele“, murmelte ich. „Ob das alles Chemiefacharbeiter wie meine Mutter waren?“ Ich duckte mich hinter meine Traurigkeit, blickte mich um und sah den Tross uns in höflichem Abstand zur Trauerhalle folgen. Statt dort sitzend auf den dunklen Holzstühlen im rechten Moment ein Gefühl des Abschieds zu spüren, ärgerte ich mich, dass mein Musikwunsch für die Zeremonie nicht angenommen wurde, ein Leonard Cohen Song von der allerersten Platte, die meine Mutter immer gehört hatte. Warum sollte ich denn einen Wunsch meiner Tante telefonisch vorher durchgeben? Nun knisterte viel zu laut über eine verkantete Spule der Lautsprecherbox eine mit Kratzgeräuschen untermalte Morgenstimmung aus der Peer-Gynt- Suite. Dann wanderten wir, wanderten wir durch die weite, gelbe Welt zum Urnenfeld. Dieser unwirkliche Staub auf den Grabsteinen, die unseren Weg säumten, gab mir zu denken. Meine Mutter hätte das nicht ausgehalten, sondern sofort einen Lappen geschwungen, um die Inschriften frei zu legen. Vielleicht hätte sie festgestellt: 'Jeder Mensch hat unumstößlich sein Geburts- und Sterbedatum.' Bis auf die Toten von der „grünen Wiese“, die hat es ab dem Punkt nie gegeben, sobald die ausgestochene Narbe mit Fußtritten geschlossen wird und das Gras wieder wächst.
Je länger die Beerdigung dauerte, desto müder wurde ich. Mich hielt die Angst wach, es könnte Narkolepsie sein. Innerliche Ruhe gewann ich erst, als ich sicher war, wie ich zu meinem Schläfchen kommen würde. Zwanzig Minuten reichten, bevor wir uns beim Italiener zum Leichenschmaus trafen. Ich hatte während der Anfahrt so oft den Staub mit dem Wischwasser der Scheibenwaschanlage als feinen Schlamm an den Rand meiner Frontscheibe des Mondeos geschoben, bis das Wasser aufgebraucht war, und musste den Weg mit Schlieren im Sichtfeld suchen. Inzwischen war das Auto wahrscheinlich wieder derart eingestaubt, dass ich mich hinter den Scheiben verstecken, die Tür verriegeln, den Fahrersitz nach hinten senken und endlich schlafen konnte.
Seit ich angekommen war, stierte niemand der Anwesenden auf meine fleckige schwarze Hose oder mokierte sich über meine ungewaschenen Hände. Dieser allgegenwärtige Staub an meinem Oberteil und an der abgetragenen schwarzen Hose hatten sogar etwas Positives: Keiner raubte mich aus. Keiner aus dieser Meute, die nun auch am Loch der Urne stand, vermutete, dass ich die beträchtliche Summe an Kosten für die Beerdigung und die Wohnungsauflösung in Bar bei mir trug, um sie wie abgesprochen meiner Tante auszuhändigen. Es war zwar schon vorgekommen, dass Obdachlose angezündet worden sind, wenn sie auf Bänken des Friedhofs ihr Schläfchen hielten, aber ich würde ja im Auto ruhen, da passierte mir schon nichts.
Hier auf der grünen Wiese lagen anonym bestattet schon viele meiner Verwandten. Bei uns hatte keiner Wert auf die Grabpflege gelegt und es war auch keiner alt geworden, um sich Gedanken über sein Sterbedatum zu machen. Noch war ich mir nicht sicher, ob sich der Tod mit dem Gift in unsere Familie einschlich, ein Gift, das mein Onkel, mein Großvater und meine Mutter, ohne sich dessen bewusst zu sein, in der Wäsche aus dem Zellstoffwerk mitgebracht hatten, und das so fast die ganze Familie hinraffte. Was damit begann, dass alle mit Mitte dreißig ihre Zähne verloren und dafür diese viel zu gleichmäßigen blütenweißen Ersatzgebisse bekamen. Manchmal zerbrachen sie, oder früh morgens nach dem Aufstehen, wenn sie ihre Gebisse noch nicht eingelegt hatten, da waren die Gesichter eingefallen und erschreckend fremd. Vor meinem inneren Auge sehe ich auch meinen Onkel, den knallharten Hund, der oft im Suff diesen wahnsinnigen Blick vom Repin-Bild auflegte, auf dem Iwan der Schreckliche gerade seinen Sohn erschlagen hatte, nur dass mein Onkel seine legendären Dampfhämmer mit dem weichen Handballen sausen ließ, die immer unblutig blieben, aber jeden Schädel ausknockten. Manchmal musste auch er einstecken, sodass seine Ersatzzähne dranglauben mussten. Dann folgten Zeiten, in denen er sich ohne Gebiss scheu beim Sprechen und Feixen die Hand vor den Mund hielt, obwohl er sich sonst für nichts schämte. Googeln könnte ich, was das genau war, dieser Zusatz, der bei der Herstellung von Zellstoff das Holz weich machte und durch den bei meinen Verwandten zuerst die Zähne aus- und dann die Lider für immer zufielen. Doch für solche Dinge fehlt mir die Geduld. Dieses Buch über mich und meine Ahnen will ich verfassen, solange ich noch Zeit dafür habe. In mir schlummert auch etwas, wusste ich, seitdem auch mir mit zwölf Jahren unvermittelt ein Backenzahn rausfiel, und das war kein Milchzahn. Häufig litt ich an unstillbarem Nasenbluten, musste ins Krankenhaus, weil ich auszulaufen drohte. Das alles könnte Ursache in den Weichmachern haben und ich würde sie im Inhalt der Gläser nachweisen können, die von mir selbst vor dreißig Jahren vergraben wurden.
Dieser Onkel mit dem niedlichen Rufnamen Hänschen war der älteste Sohn meiner Großeltern. Der Raufbold hatte nicht mal lange im N-Zellstoff gearbeitet, einem Betriebsteil von ORWO Film. Er hat es nirgendwo lange ausgehalten, außer zwangsweise im Knast wegen Bummelns. Ob seine Zähne nun ausgeschlagen oder durch den Weichmacher im Zellstoff ausgefallen waren, konnte ich nicht mehr herausfinden, denn auch Hänschen war erst neulich in die Grube gefahren.
Der Bestatter verzog kein einziges Mal die Miene in seinem blutleeren, grauen Gesicht, als er die Urne mit einer blauen Satinschleife in ein Loch hinab ließ, das nur wenig größer war als das Gefäß. Ich war beruhigt und dankbar, als es vorbei war und er das lose Ende der Schlaufe wieder herauszog, welches erleichtert fröhlich hüpfte. Seine ganze Show war mir zu übertrieben rituell geprägt. Gesten, die betroffen wortlos Vorgänge zelebrierte, die mir wahrscheinlich behilflich sein sollten, mich zu verabschieden, aber die Art, wie er die Urne noch einmal vor dem Absenken huldigend in die Höhe hievte, in die wässrige von Sand verklebte Sonne darbot, nachdem er sie schon zwischen Kapelle und „grüner Wiese“ mit festem Schritt staatstragend voran balanciert hatte, das mir übel wurde. Wenn Babett vor einer Woche noch ein Kreuz bei Trauerrede gemacht hätte, wäre das Ganze noch mit peinlichem Gesülze über die Bühne gegangen. Ein Begräbnisort im Übrigen, an dem keinerlei Blumenschmuck erlaubt war.
Die nackte Urne und ihr Loch, so ganz ohne Blümchen, sah aus wie eine Granate in ihrem Geschützrohr. Erst die Vorstellung rettete mich, dass für dutzende weitere Geschosse im Boden ringsherum der Countdown für den Abschuss ins Jenseits lief. Sie hatte sowohl etwas Bedrohliches als auch Abschließend-Tröstliches.
Der Friedhof war mehrere Hektar groß, und trotzdem standen wir, der Lage einiger Eiben nach zu urteilen, auf demselben akkurat abgesteckten Quadranten, wo wir Onkel Hänschen erst vor kurzem versenkt hatten. Bei der Enge reichten wahrscheinlich die dünnen Stimmchen ihrer Seelen aus, sich verständigen zu können. Das Stimmchen meines Onkels könnte so etwas sagen wie: „Ich bin hier in der sechsten Zeile, Urne zwölf.“ „Hol mich hier raus, sonst kannste was erleben.“ Meine Mutter würde wahrscheinlich erst einmal nichts sagen, weil sie ihr Leben lang nie viel geredet hatte, sondern eher eine Frau der Tat war. Nach vierzig Jahren Fließband war sie völlig abgestumpft und passte nicht auf ihre Gesundheit auf.
Nachdem ich auf das Lenkrad gelehnt eingenickt war und meine nötige Ruhe bekommen hatte, fiel mir auf dem Weg zum Italiener auf, dass der Friedhof ja ganz in der Nähe der Hauptpforte der Fabrik lag, wo sich der Tod mit den Arbeitern ohne weite Wege verabreden konnte.
Das Lokal war armselig dekoriert, die Bestuhlung und die Tische stammten aus irgendeiner Büroauflösung. Einzig die großen Panoramascheiben hatten etwas Großzügiges und verbargen den Blick nicht vor dem Wüstenwind, den Bäumen und Sträuchern, die in Staub gehüllt Gespenster spielten. Der Betreiber, ich kann nicht mal mehr sagen ob Frau oder Mann hatte sicher nur eine vorübergehende Arbeitslosigkeit mit einem Ausflug in die Selbständigkeit überbrückt, die möglicherweise gerade heute endete, denn die Bedienung kam nach unserer Pizza Bestellung kein weiteres Mal an die Tische um zu fragen, ob wir noch etwas haben wollten, noch kehrte sie den Sand von den Fliesen weg der Meter weit zur Tür reingeweht war als ein Kamel mit dem schwankenden Gang zwei rechts zwei links als Wüstenschiff zur Tür rein schaukelte und seine voluminöse Lippe bleckte, die fauligen Zähne zur Schau stellte, dass einem der Appetit verging. Das Kamel war ein Gast und einer der seltsamen Leute von der Beerdigung mit Trauerbinde am Arm, aber ich hatte keine Lust, eine neue Bekanntschaft zu machen.
„Und das mit sechsundfünfzig, schlimm, schlimm“, sagte meine Tante Babett, die ehemalige Pionierleiterin der Sonderschule Bitterfeld, die sich seit der Wende als Angestellte mit Bildungsträgern wegen des schlechten Lohns herumärgerte, obwohl sie unmögliche Dinge mit Schwererziehbaren anstellte und sie in geordnete Leben und Arbeit vermittelte.
Sie schaute betroffen in die Runde, zupfte an ihrem dunkelblauen Kostüm und schluchzte voller Selbstmitleid: „Die nächste in der Reihe bin ich.“ Die jüngere Schwester, Tante Vivian, die wir Vivi nannten, eine Dorfgrundschullehrerin und unangefochtene Meisterin der Papiergirlanden und Bastelideen, fühlte sich zu Trost verpflichtet und erklärte: „Totgesoffen!“, nach einer Pause, die Blicke senkten sich, ergänzte Vivi: „Mit Alkohol hast du doch aber nichts am Hut.“ Erleichtertes Nicken in der Runde, nur ich biss die Lippen aufeinander, zischte: „Hieß das etwa, meine Mutter wäre nur wegen der Sauferei. Wie gemein, das war nicht wahr.“ Wieder eine Pause. Ich erklärte: „Sicher der Alkohol, ich habe die Flaschen gesehen, aber diese ganze scheiß Chemie.“
In mein erneutes Schweigen mischte sich ein Gefühl des Bedauerns, meine Mutter die letzten Jahre nicht mehr gesehen zu haben. Weil es nicht mehr möglich war, starrte ich so intensiv auf die Servietten mit blauem Aufdruck in ihrem Serviettenständer, bis ich mir einbildete, dass sie im nächsten Moment weg flattern würden. Denn er war doch schuld an allem – der Zellstoff und das Gift, das keinen in der DDR interessierte, bis sie unterging die DDR und als Billiglohnland in Asien wieder auftauchte, um da alle zu vergiften. „Totgearbeitet wohl eher“, schluckte ich kleinlaut. Ich könnte schwören, dass die Servietten zwar nicht wegflogen, sich dafür aber solang in einen dreieckigen Tischwimpel der FDJ verwandelten, bis ich mir rechts und links ziemlich dicke Tränen aus den Augen wischte.
„Stimmt, gearbeitet hat sie bis zum Schluss“, räumte Vivi ein und streichelte über ihre dicken Oberschenkel, als würde sie mir den Kopf streicheln, wie früher. Vielleicht malte sie mir gleich noch aus, wie wir zusammen eine Hütte aus einem alten Karton bauen, in die ich mich verkriechen kann. ‚Hilf mir lieber, ich selbst und wieder erwachsen zu sein, als mich in den Sumpf der Erinnerungen zu ziehen‘, dachte ich.
„Ein Wunder bei den Beschwerden“, meinte Babett und wog den Oberkörper nach vorn und hinten, eine wogende Boje im Sturm ihrer blau-schwarz kostümierten Entrüstung. „Aber das jetzt den schlechten Standards in der DDR zuzuschreiben, da machst du es dir zu einfach.“ – „Hä, wie meinst du das?“, fragte ich, runzelte die Stirn in klarer Feindseligkeit. Babett holte weit aus und referierte dann über die heiße Großwetterlage, aber es blieb nicht beim Wetter. Babett stierte meine Mine, spiegelnd nur noch missbilligender aus dem Fenster auf den gelben Himmel, und wog weiter ihren Körper, als wäre sie ein autistisches Medium. „Denkst du oder denkt hier irgendwer, das ist nur Staub?“ Als keine Antwort kam, nur rätselnde Gesichter, meinte Babett, dass die Westmächte ihre Atombomben in der Wüste getestet hatten, und alles, was mit den Winden an Tagen wie diesen zu uns kommt, ist verstrahlt. Stärker als alles, was jemals aus Tschernobyl gekommen ist, auch wenn das ewig her ist. Das eine war ein Unfall, das andere volle Absicht.
Ungläubig nickte ich, dachte ‘Ganz die Alte‘, irgendwie ist die Staatsbürgerkunde nie aus ihr gewichen, außerdem verstand ich überhaupt nicht, was sie jetzt damit sagen wollte. Babett behandelte mich wie einen ihrer Delinquenten, so kam ich mir jedenfalls vor. Unzufrieden scharrte ich mit den Rändern meiner Schuhsohlen in den Fugen der Fliesen unter dem Tisch und machte aus ihnen einen dünnen schwarzen Kanal, aus dem, ich konnte es kaum glauben, ein winziger Karl Eduard von Schnitzler auftauchte, ein längst Ertrunkener im Kolafluss am Ende der Stadt, um winkend eher nach meiner Aufmerksamkeit rang, als sich selbst zu retten. Er piepste: „Die DDR-Umweltprobleme waren eben gar nichts gegen die massiven westlichen Atomteste in der Wüste Algeriens und deren Folgen bis heute.“
Während das Gespräch in der Familie über die Ungerechtigkeit ganz allgemein als Urzustand sich verselbständigte, ging ich in mich, ließ mich von den Windstößen ihrer Stimmen und Meinungen treiben und suchte nach dem einen vom Sturm umpeitschten Wegweiser, an dem ich mich festhalten konnte, der meine noch vage Vermutung manifestierte, ich könnte irgendwie schuld an ihrem Tod sein. In meiner Hosentasche klimperte nicht nur das Trinkgeld als Dank für die diskrete Abwesenheit der Bedienung, sondern ich konnte ohne weitere Anstrengung in den Fusseln pulen oder in dem, was sich sonst noch von den Innennähten meiner Hose abkratzen ließ, einfach in den Mengen unerschöpflichen Krimskrams von Erinnerungen an meine Kindertage.
Was hatte ich hier unter den Nägeln klemmen? Die Geschichte mit den vergrabenen Gläsern von vor dreißig Jahren. Ein semmelblonder neunjähriger Junge mit Segelfliegern, der ich früher war, experimentierte auf Grundlage der Fernsehsendung Hobbythek. Jean Pütz zeigte, wie man Haarwäsche selber macht. Aus Experimentierfreude rührte ich mir also aus einem Ei und Bier eine winzige Menge Shampoo in einem Schnapsglas an. Leider fiel das Glas unbemerkt in den Wäschesack, den ich selbst auf dem Gepäckträger in die Werkswäscherei bugsierte. Hinzu ging es noch, aber mir graute es schon vor dem Abholtermin. Da war die Wäsche nass und der Sack drohte, die spargelige Konstruktion meines Gepäckträgers zu verbiegen oder ständig runterzufallen. Einmal konnte ich das Gleichgewicht nicht halten und wäre fast unters Auto gekommen.
Die Werkswäscherei in der Jahnstraße war eine Nachbildung von Hitlers Reichskanzlei, hatte einen tempelartigen Eingang und die Empfangstheke war sehr großzügig angelegt. Ich kam mir so klein vor. Ich war auch klein, degeneriert, im Wachstum gehemmt, hatte schon eine monatelange Kur in Bad Salzungen hinter mich bringen müssen, wo ich vor Heimweh zerfloss und mich zurück in das Moloch der fiesen Abwässer, der schlechten Luft und verseuchten Böden sehnte, zurück an den stinkendsten Arsch der Welt, in dem meine Familie die Stellung hielt. Der Wäschedienst war nur Angehörigen der Fabrik vorbehalten. Jedes Mal, als ich den Sack voll Kochwäsche auf eine Waage stellte, fragte eine Frau mit Gummihaube und Kittelschürze: „Wie ist die Nummer der Abteilung?“ Sie umgab eine Korona aus Wasserdampf. Ich sagte 2307, der Anschluss vom Holzplatz, wo Opa Werner arbeitete. Die Frau suchte auf der Liste und nahm die Wäsche an. Nach ein paar Tagen wurde Opa einbestellt, weil sich eine Wäscherin die Hand an meinem Schnapsglas aufgeschnitten hatte und ihr Blut alles befleckte. Von da an brauchte ich den Wäschesack nicht mehr in die Wäscherei zu bringen, denn wir wuschen nun alles selbst, auch die Wäsche, an denen die Gifte aus der Fabrik hafteten.
Wir machten den Waschtag zum Fest am Sonntag, zu dem meine Mutter, meine beiden Tanten und meine Oma zusammenkamen. Während die Kirchenglocken zum Gebet lockten, gab es bei uns Rotkäppchensekt draußen auf dem Hof zwischen Hundehütte, Waschküche und Holzstall.
Opa schlief den Vormittag über, denn er hatte die ganze Nacht unter Flutlicht die Schicht Holzstämme mit dem Kran aus Güterzügen geschaufelt, damit sie von der
Rinde befreit und gehäckselt in großen Töpfen gekocht werden konnten. So betraute Oma Karin mich schon nach dem Aufstehen mit den Aufgaben, die nötig waren, um Feuer unter dem Kessel zu machen.
Räum die Fahrräder aus dem Waschhaus! Kehr die Asche! Knüll das Papier! Greif das Kleinholz! Zünd es an! Beim Nachlegen habe ich mich an der Ofentür des Kessels verbrannt. Eine rote Strieme auf dem Handrücken ließ sich nicht wegrubbeln.
Ich schnaubte vor Wut, schaute, ob Opa wirklich schlief oder ob er, der Mann im Haus, nicht das Feuer hätte machen können. Aber er schnarchte tief. Ich war auf leisen Sohlen unbemerkt hochgestiegen, hatte die fünfte und siebente Stufe, die knarzenden, ausgelassen und bemerkte, dass nun auch meine Tante Babett, damals immer in ihrem Blauhemd auf der Treppe war. Im Flur vor den Schlafzimmern stand der Wäschepuff, so nannten wir das Ding. Es war ein klobiger Klotz, der jedoch nur aus dünnen, mit geblümtem Wachstuch bezogenen Leisten bestand und einen leichten Deckel besaß. Öffnete oder schloss man den, puffte die Luft da raus oder rein, und ich empfand unser Wort dafür ganz passend. Weil ich die Chance für einen Scherz gekommen sah, kletterte ich in den Wäschepuff hinein und wartete darauf, dass Babett ihn leerte. Während ich drin lag, stieg die Spannung. Sie hatte den Treppenabsatz verlassen und den Korb abgestellt. Inzwischen bemerkte ich etwas, wahrscheinlich ihr Knie, das den Deckel einbeulte, dann das Zweite. Jetzt schien sie sich aufzurichten, um an das Regal über der Treppe zu gelangen. Ruhig bleiben, verordnete ich mir. Was machte sie da nur? Meine Ohren spitzten sich. Es klang, als richte sie alle Buchrücken einzeln an der Kante aus. Dann zog sie ein Buch heraus und blätterte darin, stellte es zurück. Auf dem Regal standen die braunen Marx-Engels-Bände und die komplette Lenin-Ausgabe – Meterweise Langeweile: Ich schlief immer ein, wenn ich diese komplizierten Gedanken von Karl Marx las, was frustrierend war, weil ich was mit Indianern erwartet hatte. Mir kam in den Sinn, dass der Schlaf in all der benutzten Bettwäsche gespeichert sei. Die Träume in den Kopfkissenbezügen – wo sollten sie auch sonst sein, denn wachte man auf, blickte sich um, waren die Träume in die Kissen gesickert, klar.
Plötzlich bewegte Babett sich wieder abwärts. Sobald sie den zweiten Fuß auf den
Boden gesetzt hatte, sprang ich mit einem Schrei aus der Wäsche. Worauf Opa hinter der Tür erwachte, seine Wutstimme auflegte und „Rücksichtslos!“ rief sowie einsilbige Flüche zischte.
Als meine Tante den Schreck verdaut hatte, flüsterte sie: „Arme ausbreiten!“ Ich gehorchte. Sie bepackte mich mit der Bettwäsche, also dem Schlaf und den Träumen unserer Familie. „Geht noch was?“ - „Ja." Sie lud ordentlich auf meine Ärmchen. Ich trug das Bündel die Treppe runter und hinaus und kippte es auf den Hof. Meine Oma als Leittier stand schon im Sonnenschein an der Zinkwanne und tauchte die Feinwäsche mit einem schon ganz weichgekochten Holzquirl unter. Ihre Sachen trocknete sie auf Bügeln, später kamen sie in einen ihrer drei Schränke. So eine große Auswahl an Mode aus dem Exquisit hatte sie. Der Exquisit war der am nächsten gelegene Laden. Nur die Straße an den Reihenhäusern vor, gleich das erste Haus auf der Hauptstraße. Bequem erreichbar, aber teuer.
Meine Mutter nutzte zum Trocknen ihrer Wäsche mein ausgedientes Kinderbett, dieses Gefängnis für Zwerge. Die Seitenteile mit den Streben eigneten sich prima, um die Strumpfhosen aufzuhängen, die allesamt zerlöchert waren. Meistens mittwochs, und wenn der Wind ungünstig stand, suppte aus einem der acht Chlortöpfe vom Chemiekombinat Bitterfeld ein giftiger Nebel das Gleisbett entlang ins bewohnte Gebiet und zerfraß die Feinstrumpfhosen meiner Oma und meiner Mutter. Dadurch hatte meine Mutter wie alle Frauen, die solche Strumpfhosen trugen, immer etwas Verwahrlostes. Babett, meine Pionierleiter-Tante, die nichts für solche empfindlichen Kleidungsstücke übrig hatte, sagte: „So was Nuttiges!“ Dabei hatten Oma und Mutter ganz unschuldig nur einmal pro Woche am HO-Farbenkörbchen in der Schlange vor der Tür angestanden, um Fisch zu kaufen. Ich dachte beim Anblick der Löcher an den Beinen meiner Mutter meistens an Käseaufschnitt.
Später zog Babett die Bettlaken auf der Leine glatt. Der Hof verwandelte sich nach
und nach rund um die Wäschemasten in ein Segelschiff.
Meine Mutter hantierte an der Schleuder, drückte den Deckel auf die Maschine und ließ sich dann minutenlang mit stoischer Miene durchrütteln, wobei aus einem Auslauf graues Wasser aus der Weißwäsche quoll und ihre Füße bis zu den hochgekrempelten Jeanshosen benetzte. Hätte sie die Schleuder losgelassen, wäre das Teil außer Rand und Band durch die Gegend gehüpft.
Moment mal: Weiße Wäsche, graues Wasser? Das machte mich stutzig. Mir schwante, dass diese graue Brühe wirklich ein Traumextrakt sein musste, denn Träume waren ja auch schwarz-weiß und in die Kissen gesickert. Ich nahm also ein leeres Gurkenglas nach dem anderen aus dem Handwagen, den ich eigentlich zur SERO-Annahme schieben sollte, und füllte die Flüssigkeit ab.
Diese Schleuder machte laute Geräusche, als spreche sie mit mir, als weissagte sie einzelne Worte. Vielleicht brachte sie die Träume zu Wort. Ich hörte genau hin: Die Schleuder gab hohe Töne und ganz tiefe Töne von sich, ein richtiger Singsang, als wollte sie in Wirklichkeit keine Schleuder, sondern eine Opernsängerin sein.
„Wie von der Schallplatte“, gab ich zu verstehen. Aber meine Mutter reagierte nicht, es war einfach zu laut.
Oma hatte beobachtet, was ich trieb und bemerkte: „Wird Zeit, dass die Ferien vorbei sind. Du hast nur noch Flausen im Kopf.“ Acht Wochen Ferien waren wirklich sehr lang, sodass ich am Ende fast vergaß, wie es war, in die Schule zu gehen. Als die Wäsche entwässert war und der Extrakt immer dürftiger floss, klappte meine Mutter den Deckel auf und hielt die Hand in die sich drehende Trommel, um sie abzubremsen. Nein, nein!, schrie ich vor Angst. Ihr Arm würde sich wie Gummi eindrehen. Aber es passierte nichts. Mutter kommentierte auch das nicht weiter, sie war zu sehr in den Ablauf ihrer Arbeit verwickelt.
Dann kontrollierte ich die Hand meiner Mutter, sie war nicht eingedreht und multipel gebrochen, und belohnte sie mit einer Weinbrandbohne aus einer Schachtel auf dem Fensterbrett und führte eine Praline auch zu meinem Mündchen, worauf sie mir verbot: „Nee, du nicht, da ist Schnaps drin.“ Der Wasserdampf im Waschhaus hatte die Schachtel schon völlig aufgeweicht, und es sah irgendwie unappetitlich aus. Als meine Mutter erneut die Schleuder mit der Hand anhielt, meldete ich das Babett: „Mutti greift immer in die Trommel“, und sah den Arm meiner Mutter spätestens jetzt eingegipst vor mir.
Babett war mit dem Straffen der Leine beschäftigt, stellte Stangen unter die Leinen, damit die Laken nicht den Boden berühren konnten, und erzählte mir dann, dass meine Mutter im Zellstoffwerk auch immer in die sich drehende Trommel der riesigen Maschinen fasste, um den Zellstofffluss wieder zusammenzubringen, wenn der sonst endloses Strang geteilt war.
„Du kannst stolz auf deine Mutti sein, die arbeitet schon so lange ich denken kann, schwer und klotzt ran wie ein Pferd.“ - „Ja, ich weiß, ich hab ihre Orden gesehen.“ - „Sie kann nicht anders. Wenn sie arbeitet, dann arbeitet sie hart. Als ich noch ein Mädchen war, habe ich in der Ferienarbeit im Werk ausgeholfen und staunte über meine große Schwester, mit welcher Energie sie unter den Trommeln im Unort, dem Schacht, weißen Matsch hoch schaufelte, der bei der Produktion abgestürzt war. Alles mit so viel Elan, das machte ihr keiner nach.“ Ich war zufrieden mit dieser Antwort meiner Tante und stolz auf meine Mutter, die uns einen Korb voll Knautsch vor die Füße knallte und die nächste Waschladung in die Maschine wuchtete. Später stellte sie mich voller Übermut auf den Deckel der Schleuder, vielleicht weil sie es albern fand, dass ich am Boden vor dem Ausfluss in der Nässe kniete. Ich wurde vom Fuß aufwärts komplett durchgeschüttelt, dass ich doch glatt das letzte Glas Traumextrakt fallen ließ.
Bevor meinen Gläsern noch mehr passierte, stellte ich sie lieber vor den Gartenzaun in die Sonne, schaute genau hin, ob da irgendwas von den Träumen aufblitzte und plante, wie ich sie wieder aus dem Wasser bekäme.
Opa hatte sich aus dem Bett bequemt und klackte in seinen Holzpantinen über den mit Wäschesegeln bespannten Hof. Ihm folgte ein Hauch seines Birkenhaarwassers, das er sich eben noch in sein schütteres Haar massiert hatte. Als er noch schlaftrunken den Gartenweg zu seiner Garage entlang wankte, drohte er mir beim Anblick der Gläser: „Räum das weg, sonst mach’ ich's!“ Weil mir nichts anderes einfiel, buddelte ich eilig ein Loch und begrub die Gläser. Opas autoritäres Auftreten, die Kombination aus seinen schweren, schier unmöglich zu tragenden Pantinen, dem Duft des Birken-Haarwassers und seinen geschäftigen Vorhaben mit seinen Betonfiguren in der Garage, erlebte ich neben all den Frauenfiguren lange als sichere Symbole des einzigen anwesenden männlichen Vorbilds.
Das Zerrbild der Wirklichkeit vor meinen Augen, während ich auf der Schleuder stand, verfolgt mich bis heute und ist in der Klimperhosentasche meiner Kindheitserinnerungen genauso präsent wie die Zuwendungen meiner kräftigen Mutter: meine Atemnot, wenn sie mich wieder einmal zu doll an sich drückte und herzte oder ihre Tränen der Rührung, wenn ich bei der Volkssolidarität „Advent, Advent, ein Lichtlein brennt“ vor Rentnern aufgesagt hatte.
Damals hatte ich die Gläser nicht tief, aber tief genug begraben, sodass sie bis heute sicher niemand entdeckt hatte. Ich brauchte nur zu suchen und schon hatte ich die Beweise für Mutters Todesursache. Aber halfen sie mir wirklich? Was würde es mir bringen, den Inhalt analysieren zu lassen, um die Gifte im Waschwasser zu entlarven? Tot war tot, und nur weil wir unsere Wäsche wuschen. Darum meine Parole: Es lebe der Dreck! Ich werde ein Vorkämpfer gegen den Waschzwang sein, plädiere fürs Stinken, und statt Nagellack empfehle ich Trauerränder unter den Fingernägeln. Babett hatte dem neuen System schon längst den inzwischen viel zu großen Wäschepuff neben vielen anderen Einrichtungsgegenständen meiner Kindheit geopfert. Sie war mit Maja ihrer Tochter ein paar Kilometer weiter in ein größeres Haus aufs Land gezogen. Trotzdem gab es keinen Waschkessel mehr, nicht einmal die Zinkwanne als bepflanztes Kitschobjekt hatte den Umzug geschafft, nur einige von Opas Betonfiguren zierten dort den Garten. Waschvollautomat und Trockner ersetzten jetzt das Waschfest am Sonntagvormittag. Tatsächlich lag das neue Haus ganz in der Nähe von Tante Babetts alten Pionier-Zeltferienlagers an einem toten Muldearm, wo wir so manchen Sommer verbracht hatten, während meine Mutter mit ihrem neuen Mann Burkhard an den Balaton fuhr – ein Mann mit Biss und monumentalem Schnauzbart, der mich Kuckuckskind nannte und nicht ertrug, dass ich mit von der Partie sein sollte.
Na und! An der Mulde konnte es auch schön sein. Es waren zwar feuchte, verschimmelte Zelte, halb verfallene Plumpsklos und eine Baracke als Aufenthaltsort, bei der es überall rein geregnet hatte. Ein anderes Ferienlager konnte sich die Sonderschule Bitterfeld nun mal nicht leisten, und trotzdem waren unsere Sommer mit Paddeltouren schön.
Die Sonne schien inzwischen blass weißlich durch die sich lichtende Nebelwand aus Sand. Sie strahlte eine verhaltene Freundlichkeit aus, die sich in den Panoramafenstern brach. Als ich meine Pizza gegessen hatte und nur ein paar verbrannte Ränder auf dem Teller liegen ließ, weil ich mir einbildete, genau durch den verkohlten Rest Magenkrebs zu bekommen, rückte ich etwas näher an meine Tante heran. „Erledigten wir noch das Finanzielle.“ Ich schob den Umschlag mit den fast dreitausend Euro für die aufgelaufenen Kosten herüber und sagte: „Schade, dass der Cohen-Song in der Trauerhalle nicht lief“ – „Aber Junge, das ist doch ein Liebeslied, es passte einfach nicht zur Beerdigung.“ „Ja, wahrscheinlich hast du recht, aber ich brachte diese Musik ein Leben lang mit meiner Mutter in Verbindung und hätte mich damit auch gern verabschiedet.“ – „Das ist deine ganz eigene Verbindung zu deiner Mutter, die nimmt dir niemand weg, aber die anderen hätte so ein Song nur verwirrt.“ Meine Cousine hörte das, verdrehte die Augen und brachte sofort ein Beispiel, wo ein völlig unpassender Schlager der Flippers gespielt wurde, weil die Hinterbliebenen sich das gewünscht hatten, und keinen hatte das verwirrt.
„Ich mach mich dann mal los, zum Baumarkt einen Spaten kaufen“, sagte ich mich verabschiedend in die Runde. Vivian legte ein betroffenes Gesicht auf „Wozu der Spaten?“ „Willst du die Urne rausholen?“, ich schwieg, mimte aber achselzuckend ein ‚Vielleicht!‘, freute mich, dass sie mir das zutraute. Vivi lächelte gedankenversunken und streichelte wieder ihre Schenkel. Babett griff mir an den Arm und meinte:
„Schön dich mal wieder gesehen zu haben, halt die Ohren steif, die Trauer wirst du schon überwinden.“
Jetzt meldete sich Marcel, der Mann meiner Cousine, ein stämmiger Krankenpfleger, mit rasiertem Muster in den Bartstoppeln seiner riesigen Wangenpartien. Er hatte bisher die Anwesenden mit schmutzigen Handyvideos unterhalten und wenigstens meine Cousine zum Lachen gebracht, die bald ein Kind erwartete, was auch der Grund für ein größeres Haus war. Nun erwähnte er, dass er mir noch ein paar Sachen aus seinem Auto geben will.
Draußen über der Damaschkestraße thronte ein gelber Himmel mit zerzausten Wolken. Der Staub war nicht mehr wirklich zu sehen, hatte aber trotzdem meinen Mondeo eingehüllt. Ich nahm die Parkscheibe mit dem Eiskratzer, um den mit Wischwasser verklebten Schlamm von der Frontscheibe wegzuschieben. Ob das wirklich radioaktiv war, rätselte ich. Marcel öffnete seinen Van und holte zwei blaue Ikea-Taschen aus dem Kofferraum. Einer war übervoll gestopft mit den Handtüchern meiner Mutter. „Handtücher kann man immer gebrauchen“, sagte Babett, die uns gefolgt war, und schützte ihren Mund und die Nase mit dem Revers ihres Trauerkostüms. Ich drückte ihre Hand und sagte ernst: „Danke, dass du mir die Sache mit der Wohnung meiner Mutter abgenommen hast.“
Im anderen Möbelhausbeutel lag ein Kitschbild mit schlafender Venus im Mondschein, das so lange ich denken konnte über dem Bett meiner Mutter gehangen hatte – auch die dreißig Jahre, in denen sie mit Burkhard verheiratet war, der mich als Stiefsohn nicht bei sich haben wollte. „Vielleicht kannst du noch den Rahmen gebrauchen, für deine Bilder“, meinte Babett. Hinter dem Kitschbild lag aber auch noch unser Familienfotoalbum, das wir früher im Haus meiner Großeltern, bei denen ich aufgewachsen war, oft durchgeblättert hatten, bis es eines Tages verschwunden war.
Obwohl ich gerade von ihrer Beerdigung abfahren wollte, ertappte ich mich, meine Mutter als Diebin zu entlarven. Eine unangemessene Feststellung dachte ich, wollte ich mich doch mit untrüglicher Liebe eines Kindes von seiner Mutter verabschieden. Im Album fand ich einen gefalteten Zettel, der eindeutig von ihr verfasst war. Ich erkannte ihre akkurate, geradlinige Schrift, weil sie mir ständig Postkarten und Briefe ins Ferienlager geschickt hatte. Einmal vor fünf Jahren hatte sie mir noch lang und breit aus einer Entzugsklinik geschrieben – wahrscheinlich war das Teil ihrer Therapie. Darin hatte sie sich einsichtig gezeigt, dass der Alkohol ihr schadete. Der Zettel im Fotoalbum enthielt nur den unvollständigen Satz, der eher an ein Telegramm erinnerte: „Nach meinem Tod, bitte zurück an Gabriel Machemer.“ Aber kein Gruß oder ihren Namen als Unterschrift, als verleugnete sie ihr eigenes Dasein oder als hätte der Alkohol ihr Sein derart vereinnahmt, dass ihre ursprüngliche Identität und sogar ihr Name verloren gegangen war, weil das Gras über der Narbe vom Urnengrab schon zu wachsen begonnen hatte.
Ich sagte jetzt gar nichts mehr, unterdrückte die Tränen und stieg endlich ein, drückte auf die Tasten für die Fensterheber und ließ alle Scheiben runter, um den Sand an den Gummilippen der Türen abzustreifen. Zum Abschied winkte ich aus dem offenen Fenster und wirbelte Staub im Wegfahren auf. Ein Schwall von Tränen füllte in meinem Hals einen Kloß, der zu platzen drohte. Ich kam auf dem Weg zum Baumarkt unweigerlich nochmal an Mutters Wohnblock vorbei.
Kurz vor der Räumung hatte mich Babett angerufen und mich gefragt, ob ich mir nochmal den Ort anschauen wollte, wo meine Mutter gefunden worden war. Eine beengte kleine Wohnung im fünften Stock. Das Haus war frisch saniert, ziemlich aufgeräumt, die Möbel waren alle erstaunlich neu, nur das zerwühlte Bett stach heraus. Auf der Decke lagen Blut verschmierte Handtücher, in die meine Mutter sich erbrochen hatte. Neben dem Bett standen planvoll wie Kegelfiguren aufgestellt Mengen dieser billigen Sorte Wodka, Puschkin Red. Es war so ein roter Likör, der ihre wahrscheinlich schon lang anhaltenden Blutungen der Speiseröhre verschleiert hatte, oder sie maß dem Trunk eine heilende Wirkung zu, statt zu erkennen, dass der Trunk ihre Leiden verursachte. Schließlich hatte sie sich mit allen zerstritten, die ihr zuletzt nahe standen, zugunsten ihrer geplanten Abstürze in den Alkohol. Niemand holte Rettung, als sie allein war, das Bewusstsein verlor, innerlich verblutete und starb.
Der neue Spaten half mir, die Stelle auszuheben. Aber was hatte ich mir nur gedacht? Immerhin, die Gläser waren da, zumindest das, was ich da vergraben hatte, aber womöglich schon im ersten strengen Winter waren sie erfroren und geplatzt. Übrig waren nur Scherben und zerlöcherte, rostige Deckel der Gläser.
Von den Träumen keine Spur, dachte ich zunächst, aber dann stellte sich heraus, dass mir der Kontakt mit dem Boden, in dem die Träume meiner Mutter lagen, half, ihren einzigen geplatzten Traum zu rekapitulieren, als würde er neu geträumt aus mir fließen und als Treibgut immer wieder mit den Wellen vom Meer meiner Erinnerung angespült werden.